Vivienne Westwood: Zwischen Kritik und Innovation in der Lehrrolle

03.08.2023 | Prof. Martina Weiß

Im Dezember 2022 verstarb Vivienne Westwood. Für ihren Ehemann Andreas Kronthaler gab es – wie er im Film ‚Westwood: Punk, Icon, Activist‘ erklärt – drei Viviennes: die Designerin, die Aktivistin, und den Menschen. Für einige wenige, die zwischen 1993 und 2006 an der Universität der Künste in Berlin studierten – darunter auch Martina Weiß, die heute an der mdh im Bereich Fashion Management lehrt – war Vivienne Westwood noch etwas anderes: Professorin. Dieser Perspektive widmet sich ein Artikel aus der aktuellen ELLE (8/2023) – und auch hier schließt sich der Kreis zur mdh: dank Fashion Management Absolvent Markus Schnieber, mittlerweile Redakteur bei der ELLE, wurde der Beitrag in der ELLE veröffentlicht.

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Dr. Gundula Wolter, Modehistorikerin und während Vivienne’s Zeit an der UDK Gastprofessorin für Modegeschichte, hat den Artikel initiiert und verfasst. Und dafür die ehemaligen Studierenden der Klasse Westwood um Mithilfe gebeten: Wie war es, bei Vivienne zu studieren? Prof. Martina Weiß erinnert sich:

„‚Eine gute Pädagogin war sie nicht‘, konstatiert Wolter in der ELLE. Tatsächlich konnte Viviennes Kritik vernichtend sein, selbst wenn sie in feinstem Oxford-Englisch formuliert wurde. Kontroverse Diskussionen über das Design oder die Idee dahinter, womöglich noch auch Augenhöhe, waren unmöglich und wurden von Vivienne im Keim erstickt: ‚It’s not a question of taste, it’s a question of uglyness‘ – oder: ‚That’s really Hausfrau. No one would wear that.‘ Niemand aus der Klasse, noch dazu vor den Augen und Ohren aller anderer Kommilitonen, wollte solche Kommentare für die eigenen Entwürfe, an denen wochenlang gearbeitet wurde, kassieren. Dementsprechend groß war die Anspannung aller vor den monatlichen Klausuren mit Vivienne, die immer für ein ganzes Wochenende von Freitag Vormittag bis Sonntag Abend von London nach Berlin geflogen kam. Viviennes Vorlesungen – es waren eigentlich mehr Anproben, bei denen sie nicht nur über die Arbeiten der Studierenden, sondern auch über Kunst, Kultur, Politik und ihre Sicht auf die Welt dozierte – waren psychisch und physisch anstrengend. Alle Zuhörer waren aufs höchste angespannt, alle menschlichen Bedürfnisse wie Essen, Trinken und Toilettenbesuche mussten ausgeklammert werden. Wer hätte sich angesichts der hochkonzentrierten, monologisierenden, die Nesselprotos der Studierenden sezierenden, rauchenden Vivienne schon erdreistet zuzugeben, dass die eigene Konzentrationsfähigkeit schon seit Stunden verschwunden war? Oder man sich vor Hunger, Durst, Müdigkeit und Stickigkeit im Raum kaum mehr auf den unbequemen Holzstühlen halten konnte? Viviennes Gastspiele waren von einem anderen Stern, ihre Disziplin außerirdisch – für sie ging es nach langen Stunden zur Erholung in die Gemäldegalerie, für uns als Studierende meist nur ins Bett. Und auch eine Professorin zu haben, die die Unangepasstheit predigte, der aber dann doch alle gefallen wollten - sei es durchs Einhüllen in Outfits mit möglichst vielen Karos im Schrägschnitt, oder eine riesige Wolke des Westwood-Parfums Boudoir – erhöhte den Druck. Man konnte es aus großer Entfernung an den Studierenden riechen und sehen, wenn Vivienne an der UdK weilte.

‚What’s the story behind?‘ war ihre meistgestellte Frage, wenn sie einen Entwurf ihrer Studierenden begutachtete. Und damit war sie ihrer Zeit weit voraus. Wenn es heute auf allen Kanälen um storytelling und content geht, war das schon Jahrzehnte vorher ihr Credo. Finde eine Geschichte, eine Inspiration, filtere die Essenz heraus – und mache es besser. ‚When you do something, it has to be better than the original.‘ Und wenn Dir das nicht gelingt, dann lass‘ es besser so wie es war. Neugier, ein echtes Interesse an den Dingen, Respekt, Tiefgang, Urteilsvermögen und kulturelle Weiterentwicklung – das war es, was sie selbst vorlebte und von ihren Studierenden forderte.

Wenngleich ihre Persönlichkeit, ihre Erscheinung und die Aura, die Vivienne um sich herum aufbaute, einschüchternd wirken konnten, war sie als Person unprätentiös, bescheiden und bodenständig, wohnte während ihrer Gastspiele in einer einfachen Pension am Ku’damm und nahm während ihrer stundenlangen Vorlesungen nur ein paar Apfelschnitze zu sich. Sie war, abgesehen von ihrer scharfsinnigen Kritik, sehr um das Wohl ihrer Zuhörer bemüht – für in Nesselmodellen frierende Studierende bot sie schon mal ihre eigene Kaschmirstola als wärmende Decke an. Und suchte in London, in ihrem eigenen Atelier, für so manchen Diplomanden nach passenden Stoffen. Sorgte für Kontakte zu Webereien und Stoffsponsoren. Und achtete, lange vor der Zeit, als sie selbst mit öffentlichkeitswirksamen Kampagnen Überkonsum und Kapitalismus kritisierte (‚buy less, choose well, make it last‘) und auf die Klimakatastrophe aufmerksam machte, darauf, dass kein teures Material als Futter oder Unterrock verschwendet wurde.

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Es wäre so einfach gewesen, sie nur auf ihre Exaltiertheit und elitäre Entrücktheit (‚I don’t see ugly people‘) zu reduzieren – doch damit würde man ihrer Person in keiner Weise gerecht. Und ich hätte nichts gelernt, denn ihre Lehre war doch, hinter die Oberfläche zu blicken, Zusammenhänge zu erkennen, wissbegierig und offen zu bleiben, alles kritisch zu hinterfragen, Gutes von Besserem zu unterscheiden, Dinge voranzutreiben und neu zu interpretieren. Sich Inspirationsquellen zu suchen und zu erschließen, dabei Respekt vor der Geschichte zu haben, zu analysieren und schließlich etwas Neues daraus zu erschaffen: ‚First imitate, then innovate‘.

Die drei, vier oder fünf Jahre in ihrer Klasse verlangten ihren Studierenden Vieles ab, lehrten Demut und Resilienz, Disziplin und Offenheit. Und bildeten den Startpunkt für ganz unterschiedliche Karrieren und Werdegänge – als Designer für die Westwood-Studios in London, mit eigenem Label oder bei großen Modehäusern, als Kostümbildner, Fotograf, Stylist, Illustrator, in der Lehre. Auch wenn sie keine gute Pädagogin war, prägte Prof. Westwood mit ihrer Geradlinigkeit, ihrer Radikalität und ihrem Mut die Betrachtungsperspektive ihrer Studierenden und setzte Themen, die aktueller denn je zuvor sind.“

Prof. Martina Weiß - Fashion Management, Mediadesign Hochschule München